Früher war der 9. November für mich immer mit dem Datum der Pogrom­nacht 1938 ver­bunden. 1989 – 51 Jahre später und fast auf den Tag genau heute vor 25 Jahren – kaufte ich in einem kleinen Super­markt am Stadt­rand von Amster­dam fürs Mit­tag­essen ein. Mein zwei­jähriger Sohn saß im Trage­tuch auf meiner Hüfte. Wäh­rend ich mit mei­nen Ein­käufen an der Kasse stand, regis­trierte ich seit­lich in mei­nem Blick­feld etwas mit einer Mauer.

Neben der Kasse stand ein Ständer mit der Tages­presse. Was in Deutsch­land die Zeitung mit den vier Buch­staben ist, ist in Holland De volks­krant: wenn man sie nicht liest schaut man auch nicht hin. Nach einer Weile regi­strierte ich, dass sich diese »… Muur …«-Schlag­zeile nicht voll­ständig aus meiner Wahr­nehmung aus­blenden ließ, indem ich sie mit »Wird wohl irgend­wo ein Rolling Stones-Konzert sein« zu über­blenden versuchte.

Ich schaute richtig hin: eine Mauer, heraus­gebro­chene Steine, Men­schen klet­terten über die Mauer. Ich hatte das Gefühl, dass es in meinem Kopf eine Art Erd­beben gab. Das konnte nicht sein. Es war in meinem Leben nicht vor­ge­sehen. Nie hatte ich eine solche Mög­lich­keit erwo­gen, es gab kein Bild für diese Option in meinem Kopf. Hinter dem Datum, an dem mein Vater 1953 nach seiner sechs­jährigen Gefan­gen­schaft unter KZ-Beding­ungen aus seiner Heimat Thüringen nach Berlin ge­gan­gen war und dann rüber­gemacht hatte, hatte sich in meiner Land­karte von Deutsch­land die Grenze zwischen Ost und West für immer geschlossen. Es gab eine dies­seitige und eine jen­seitige Seite der Welt, nicht durch einen Ozean oder eine Konti­nental­spalte, sondern durch eine Mauer mit Todes­strei­fen getrennt.

Mir wurde schwin­delig, jemand bemerkte es, mir liefen Tränen übers Gesicht, ich las flüs­ternd die Schlag­zeile, wieder­holte sie gefühlt sechs, sieben, acht Mal, dann schaute ich jemanden an und sagte auf Deutsch »Die Mauer ist offen…«. Jemand rief »Zij is Duitse!«[1], jemand anderes schob einen Stapel Getränke­kisten an meine Knie­kehlen, so dass ich mich setzen konnte, ich wurde von Wein­krämpfen geschüttelt, dazwi­schen stam­melte ich »Dat kan niet, deze muur gaat dwars door me heen…« [2].

Ich schaute in Zeit­lupe in die Gruppe Menschen um mich herum, bekam Blick­kontakt, jemand umarmte mich, nach und nach um­armten mich immer mehr und gratu­lierten, jemand ließ einen Sekt­korken knallen, wir tranken an Ort und Stelle aus Plastik­bechern den heizungs­luft­warmen, schreck­lich süßen Sekt, sogar der Kleine in seinem Tuch bekam etwas ab: »Kereltje, als dit je moeder is« – Blick zu mir, Nicken, Blick zum Kind – »dan is dit ook jouw feest!« [3].

Ich erin­nere mich nicht mehr, ob ich die Ein­käufe bezahlt habe…

[1] Sie ist Deutsche!
[2] Das kann nicht sein, diese Mauer geht mitten durch mich durch.
[3] Kerlchen, wenn das Deine Mutter ist, dann ist das auch Dein Fest!