Der europaweite Aktionstag gegen die Freihandelsabkommen dieses Jahr am 11. Oktober fand genau 33 Jahre – und einen Tag, um ganz genau zu sein – nach der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss statt. Es war der Anfang der Friedensbewegung, und ich war dabei. In der ersten Reihe, fast. Ich hatte ausschlafen, in Ruhe frühstücken und Tante Heidi beim Abwaschen helfen können. Sie wohnte vis à vis zum Schloss. Und so brauchte ich nicht, wie die meisten anderen Demonstranten, von den Busparkplätzen an der Rückseite her zur Menge aufzuschließen, sondern ich konnte gegenüber durch den Haupteingang einfach in den Hofgarten spazieren. So stand ich nur wenige Meter von der Bühne entfernt und konnte Heinrich Böll, Petra Kelly und Coretta Scott King, der Frau Martin Luther Kings, quasi an den Lippen hängen.
während der letzten Jahre meiner Schulzeit hatte ich an etlichen Demonstrationen teilgenommen. Die Zentrale des Verfassungsschutzes war nahe meiner Schule am Kölner Rudolfplatz, und bei den ersten Demos – ich glaube, es ging um Fahrpreiserhöhungen – flogen nicht nur Parolen, sondern durchaus auch Pflastersteine. Auch bei einer der legendären Aufmärsche gegen das Atomkraftwerk in Brokdorf war ich dabei. Im Sommer 1981, drei Jahre nach meinem Abitur, hatte ich mein Lehrerstudium an den Nagel gehängt und war meinem Mann nach Amsterdam gefolgt. Mir war klar geworden, dass ich auf viel zu vielen Verfassungsschutzfotos abgebildet war – auch wenn ich nie an gewaltsamen Ausschreitungen beteiligt gewesen oder gar verhaftet worden war. Es war die Zeit der Berufsverbote und ich rechnete mir keine Chance aus, als Lehrerin verbeamtet zu werden. Deshalb war es eine überwältigende Erfahrung, zu dieser unglaublich riesigen und absolut friedlichen Menschenmenge dazu zu gehören. Ich habe das nie mehr vergessen, dieser Tag gehört zu den prägendsten meines Lebens und hat mich zu der glühenden Anhängerin des gewaltlosen Widerstands gemacht, die ich bis heute geblieben bin.
Als ich im Spätsommer von der Ablehnung der Europäischen Bürgerinitiative – kurz: EBI – gegen die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA hörte, äußerte ich einem guten Freund gegenüber die Vermutung, dass sich diese Provokation als großer Glücksfall erweisen könnte. Ich hatte die Vision, dass sich aus dem ersten Aufschrei über die Arroganz, mit der die EU-Kommission die Initiative vom Tisch gefegt hatte – wie zuvor schon ihr Verhandlungsführer Karel De Gught und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel – , dass sich aus diesem Aufschrei ein neues Bewusstsein für eine europäische Identität entwickeln könnte. Und dass – analog zu 1981, dem Auftakt der großen Friedensdemonstrationen – 2014 als das Jahr in die Geschichte eingehen könnte, in dem die Ameisenbewegung begann …
Ziemlich genau vor einem Jahr hatte es angefangen: nach und nach war mir die (im Nachhinein kindliche) Vorstellung abhanden gekommen, die vielen verschiedenen Joghurt-, Rasierschaum-, Zigaretten-, Bier- und Putzlappensystemsorten in den Supermarktregalen hätten irgend etwas mit einem sich selbst durch Konkurrenz und Markenvielfalt im Gleichgewicht haltenden, freien Markt zu tun.
Statt dessen begriff ich, dass eine Krake mit 147 Firmen-, Finanz- und Shareholder-Armen auf dem besten Wege war, das gesamte politische, kulturelle und wirtschaftliche Konstrukt Europa zu vereinnahmen. Deutschland, dämmerte mir, spielte als Ermöglicher dieser feindlichen Übernahme unserer Demokratien durch milliardenschwere Oligopole in vorderster Liga mit, waren wir doch bis quasi vorgestern – neben so vertrauenswürdigen Staaten wie Nordkorea, dem Sudan, Syrien und Somalia – eines der wenigen Länder, die die UN-Konvention zur Korruptionsbekämpfung nicht unterzeichnet hatten☍. Während rund um den Globus die meisten zivilisierten, in der UNO organisierten Länder – 171 von 193, um genau zu sein – diesen seit 2003 existierenden, völkerrechtlich bindenden Vertrag unterschrieben haben, hat unser Land es immerhin geschafft, dass die gesetzlichen Voraussetzungen dafür seit September diesen Jahres vorhanden sind☍. Seither können nämlich einzelne Politiker mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, wenn sie sich von Lobbyisten bestechen lassen. Dies gilt jedoch wohl nicht für das Parlament oder die Regierung als Ganzes. Denn das, was in Berlin – und übrigens auch in Brüssel – geschieht und jedem einzelnen Politiker seit diesem Herbst den Hals brechen würde, kann man wohl schwerlich anders als Bestechung nennen, hervorragend übrigens dargestellt in diesem 3-minütigen Film … ▶
Und dann kam noch die Sache mit Monsanto dazu, das Patente auf natürlich vorkommende Pflanzen anmeldet, so dass die Bauern ihr Saatgut nicht mehr von der letzten Ernte abzweigen dürfen, sondern es jedesmal neu kaufen müssen. Dafür bekommen sie Unkrautvernichter vom gleichen Hersteller zum Freundschaftspreis gleich mitgeliefert, und weil er so nett ist, hat der Hersteller die Pflanzen, mit denen der Bauer seinen Lebensunterhalt verdienen möchte, genetisch so verändert, dass sie nicht aus Versehen durch den Unkrautvernichter gleich mit vernichtet werden. Jetzt schadet der Unkrautvernichter zwar den Pflanzen nicht mehr, dafür überleben ihn aber leider die Bienen nicht, weshalb der Hersteller jetzt wahrscheinlich in Nachtschichten schon wieder hart daran arbeitet, sich selbst bestäubende Apfelbäume zu erfinden. Französische Bauern dürfen übrigens ihr durch Pestizide verursachtes Parkinson als Berufskrankheit anerkennen lassen☍.
Unter uns gesagt: Die Afrikaner, die demnächst nichts mehr nach Europa verkaufen können, weil der größte Binnenmarkt der Welt mit schlappen 800 Millionen Kunden dann genug mit sich selbst zu tun hat – zum Ausgleich heißen die guten alten »Negerküsse« jetzt schon »Schaumküsse«, der »Sarotti-Mohr« ist ohne Abgesang dahingeschmolzen und an einer politisch korrekten Neufassung des Struwwelpeters wird noch etwas gefeilt – die Afrikaner also werden von hyperbilligen Produkten aus eben diesem Markt überschwemmt werden. Dann werden wir vermutlich die Einreisebestimmungen für sie lockern, so wie wir das kürzlich für Fachkräfte aus Rumänien und Bulgarien gemacht haben, die – nunmehr aus Niedersachsen kommend, wo inzwischen die Wälder zu voll sind für all jene von ihnen, die vergessen haben etwas Geld für die Rückfahrkarte auf die Seite zu legen ☍ – nun bettelnd in meiner Mindener Fußgängerzone sitzen. Während also die Osteuropäer in Niedersachsen für Billigfleisch sorgen dürfen – klassische win-win-Situation für sie und für uns – dürfen dann demnächst die Afrikaner per Hand unsere Obstbäume bestäuben. Oder so. Kuckst Du, geht doch! (Ironie off)
Wo war ich? Ach ja. Also das mit den Oligopolen, der unterwanderten Demokratie sowie der Reduzierung der Artenvielfalt und der globalen Vergiftung hatte ich dann so nach und nach verstanden – die Sache mit Monsanto übrigens mithilfe dieser großartigen arte-Dokumentation der französischen Journalistin und Filmemacherin Marie Monique Robin … ▶
Jetzt beschäftigte mich immer drängender die Frage, ob man, nein: was man, also was ich dagegen ausrichten könnte. Wenn eine Klientin mich fragen würde, was sie gegen ihre übermächtige Schwiegermutter* tun kann, würde ich ihr vorschlagen, in einer Art Rollenspiel die Schwiegermutter zu fragen, was die Klientin denn tut, das es der Schwiegermutter ermöglicht so übermächtig zu sein. Meistens kommen da sehr nützliche Antworten heraus. Warum sollte also diese Herangehensweise für mich nicht nützlich sein?
*hier könnte auch »Spinnenphobie«, »Chefin«, »Insolvenzverwalter« oder »Depression« stehen
Ich ging hinunter zum Fluss, klomm auf dem Kletterspielplatz auf einen Turm, von dem aus ich einen wunderbaren Rundumblick auf die Altstadtsilouette, den Fluss bis zum Höhenzug im Süden und die Flutauen am Ostufer hatte und stellte mir vor, ich sei einer dieser 147 Plutokraten – so reich an Geld und Einfluss, dass ohne meine Unterstützung der Wahlkampf des amtierenden Präsidenten fürs Weiße Haus ein Schlag ins Wasser geworden wäre.
Normalerweise habe ich Höhenangst, auch schon bei weniger als einer Stockwerkhöhe über dem Boden. Aber in dieser Rolle: nichts dergleichen. Ich war ehrlich überrascht, wie unumstößlich sicher ich* mich auf meinem Turm fühlte. Allerdings irritierte mich die Frage, die ich mit hinauf genommen hatte: was mich aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Es dauerte eine Weile, bis ich mir über zwei Schwachstellen klar geworden war: Die eine war meine Tochter. Wenn sie – stärker noch: wenn meine Enkelin, in die ich so vernarrt bin, dass sie meine Achillesferse geworden ist – wenn sie sich von mir abwenden und mir die gleichen Vergehen vorwerfen würde wie diese Umweltaktivisten, deren Geschrei mich ab und an erreicht, damit hätte ich wirklich ein Problem. Und ich gestand mir ein, dass mich hin und wieder die Frage beunruhigt, wer ich sein würde, wenn ich ohne alles, was ich erreicht habe in die Anderwelt gehen muss.*
*»Ich« meint zwischen den *…* mich in der Rolle als Tycoon.
Zusammen mit dem gleichen Freund, dem gegenüber ich die eingangs erwähnte Vermutung geäußert hatte, habe ich dann eine Aufstellung gemacht☍, bei der es um die Frage ging, welches Problem die Welt am meisten bedrückte. Zu unserer beider Überraschung hatte nicht der Konflikt um die Ukraine, Öl, ISIS oder der Plastikmüll in den Weltmeeren höchste Priorität, sondern das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada, das im Sommer paraphiert werden sollte und das als Modell gilt für das TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA.
Einige Tage nach meinem Experiment auf dem Spielplatz und der Aufstellung hatte ich einen Alptraum, in dem ich noch einmal auf dem Turm stand …
Ich stehe auf einer Plattform, einem Aussichtsturm – über mir nur Himmel. Ich stehe und schaue. Bis zum Horizont – alles meins. Ohne dass ich Anweisungen geben muss geschieht dort unten nichts, was ich nicht will. Ich stütze mich mit beiden Armen auf die Brüstung, wenn ich auf einem Schiff wäre, würde mir der Wind von der Bugwelle hoch Gischt ins Gesicht wehen. Ich lehne mich zurück. Richtig genau mag ich nicht hinschauen. Betriebsamkeit von Baggern, so groß wie Supermarktparkplätze, mittelgebirgshohe Hügel von Rohstoffen – «Sand, Steine, Erden …« – die drei Wörter bilden irgendeinen fernen Sinn, vielleicht noch aus meiner Jugend – eine Gewerkschaft? Eine Rockband?
Mir fällt auf, dass ich keine Freunde habe. Nicht mehr habe. Spielen, toben, bolzen, Geheimnisse haben, sich blind aufeinander verlassen können – weiß ich noch wie sich das anfühlt? Tausende, die es gerne wären, hunderte die sich so nennen – aber keiner der es wirklich ist. Jemand der sich traut, mich »Arschloch« zu nennen oder mir vor die Füße zu kotzen, wenn ich wieder per Federstrich eine Entscheidung an meinem zehntausende Dollar – stimmt, ich glaube ich träume Dollars, nicht Euros – teuren Schreibtisch gefällt habe, über die sich irgendwo außerhalb meines Gesichtsfeldes ein paar tausend Leute lautstark aufregen und – von Polizisten, die ich nicht einmal bezahlen muss, bewacht und wenn nötig außer Gefecht gesetzt – ein paar Straßen mit ihrem bunten Aufzug füllen. Abends ist alles wieder vorbei. Solange die Aktienkurse nicht sinken …
Wo war ich, ja … keine Freunde. Wenn ich will, dass mir jemand wirklich die Meinung sagt, muss ich Unternehmensberatern oder Universitätsprofessoren hunderte Dollars pro Stunde bezahlen, damit sie mir sagen, was sie denken. Ich statte dann eine Stiftung, die meistens vorsichtshalber nicht nach mir heißt, mit dem nötigen Kleingeld aus und lasse sie von engagierten High-Potentials mit hervorragenden Universitätsabschlüssen und ethischen Ambitionen leiten. Sind die auch beschäftigt. Und beaufsichtigt: »If you can not hit them – join them!« Präventiv, sozusagen…
Meine Frau stellt manchmal Fragen, die in mir für einen Moment Unbehagen auslösen. Ich verspreche ihr, mich um das Problem zu kümmern oder frage sie, wieviel Geld sie braucht, um sich der Sache selbst anzunehmen. Ab und zu treffen sich meine Berater und die des Präsidenten, damit wir uns jederzeit bei einem Treffen anlächeln und das shaking hands von beiderseitig sonorem Lachen begleitet werden kann in der Gewissheit, dass auch unsere Damen mit uns zufrieden sind.
Ein ernst zu nehmendes Problem stellt meine Tochter dar. Im Moment ist sie mit ihren Babys beschäftigt. Aber ich darf nicht vergessen, mich darum zu kümmern. Sie – und ihr Mann – können mir ernsthafte Schwierigkeiten machen.
Der Himmel bewölkt sich. Die Konturen der Landschaften werden schärfer, es sieht aus, als ob der Horizont näher ist – nicht näher kommt sondern jedesmal, wenn ich hinschaue, näher ist. Obwohl es nicht sein kann, erscheinen Aufzüge von diesen schreienden, Banner schwenkenden Menschen in meinem Blickfeld. Es werden mehr, sie werden größer, ich ahne, dass ich sie bald sogar hören werde. Wo sind die Politiker, die das verhindern sollen, wo die Polizei – es werden immer mehr – sie sind ringsum, wenn sie eine bestimmte Linie überschreiten, werden sie kleiner, verwandeln sich … in Ameisen, werden immer kleiner, schwarze, rote … sie kommen näher, immer näher – … ich will schreien, aber ich bringe keinen Ton heraus, mein Mund bleibt offen stehen, das Entsetzen angesichts dessen was unweigerlich geschehen wird, lähmt meine Gesichtsmuskeln, mit aufgerissenen Augen und Mund starre ich dem unaufhaltsamen schwarzen Strom entgegen … je näher sie kommen, desto lauter wird das Brausen,
das diese Millionen, vielleicht Billionen winziger Krabbler erzeugen, ich kann es nicht sehen, aber ich weiß genau, dass sie den Sockel des Turms erreicht haben, nichts hindert sie, inzwischen auf einen Zentimeter geschrumpft kommen sie höher und höher, ich kann nichts tun, sie meinen nicht mich, mein Wille und ihrer haben keine gemeinsame Schnittstelle, sie kommen höher und höher, sie tun was sie tun müssen…
Als die ersten Ameisen über meine Lippen, in meinen Mund, meine Nase krabbeln … wachte ich auf. In Schweiß gebadet. Ich musste meinem Kiefer, meinen Armen und Beinen einzeln den Auftrag geben, sich aus der Starre zu lösen, mein Mund war trocken und schmeckte bitter, ich brauchte lange, bis ich sicher war, dass ich nur geträumt hatte …
Nach der Ablehnung der EBI konnten wir zuschauen, wie in wenigen Tagen lokale und überregionale Gruppen und Bündnisse entstanden – in meiner Stadt, in der Nachbarstadt fanden wir Mitstreiter … An dem vom Kampagnennetzwerk Campact organisierten europaweiten Aktionstag STOP TTIP! sammelten wir, zusammen mit 3.700 anderen Aktionsgruppen aus 9 Ländern, fast 250.000 Unterschriften gegen die Freihandelsabkommen! Eine Viertel Million an einem einzigen Tag!!
Noch nicht unterschrieben? ☍
Angst und Mutlosigkeit sind einer Vision gewichen, die in 25 Jahren vielleicht so – oder auch ganz anders 😉 – Gestalt annehmen könnte …