Eines meiner Lieblings-Ausflugssziele ist der Kellerwald ☍, seit ein paar Jahren sogar UNESCO-Weltkulturerbe. Buchen- und Eichenwälder, die behutsam sich selbst überlassen wieder zu Urwäldern werden. Aus dem Dörfchen »BergFreiheit« stammt das Märchen vom Schneewittchen: Kinder – also Zwerge – mussten in den niedrigen Grubenschächten Halbedelsteine und Achat abbauen. Egal wo ich spazieren gehe, durch welchem Bach ich wate oder in welchem See ich früh morgens oder bei Mondlicht schwimme – immer habe ich das Gefühl, in einer anderen, irgendwie magischen Zeit zu sein. Lichtungen unter hohen Buchen haben von Frühjahr bis zum späten Herbst ein ganz besonderes Licht, und nur in Birkenwäldern ist die Stille noch hör- und greifbarer als in Buchenwäldern.
Es war mein erster Dichterwettstreit, gestern abend. Im Zuschauerraum, zumindest. Ich hatte mir vorgenommen, die Beiträge der jungen Dichter danach zu werten, wie viel am nächsten Tag noch in meinem Bewusstsein herumschwirren würde. Vielleicht hatte Melinda ähnliche Bilder auf der Netzhaut, als es sie irritierte, dass Buchenwälder ein Thema im Geschichtsunterricht sein sollten. Sie ist nicht ins Finale gekommen, also hatte ich keine Gelegenheit, meine Klötzchen bei der Publikumsabstimmung in ihr Glas zu legen. Ihr Beitrag wäre mein Favorit gewesen. Sein Titel: Buchenwald.
Ich war vom ersten Satz an zutiefst bewegt davon, was dieses Mädchen vortrug. Sie könnte meine Enkelin sein, und die Menschen, die in diesem KZ interniert waren, gehörten zur Generation ihrer Ur-, wenn nicht sogar Ur-Ur-Großeltern. Sie war auf eine beeindruckende Weise betroffen, und zugleich gelang es ihr, künstlerische Distanz zu ihrem Sujet zu halten. Überlebende, die ihrem Vortrag gelauscht hätten würden vielleicht sagen, dass dieses junge Mädchen einen kleinen Teil der Verletzungen durch Demütigung, Entsetzen und Todesangst mit Würde aufgewogen hat.
Vor sieben oder acht Jahren – wie jetzt in der letzten Oktoberwoche und bei ebenso goldenem Spätherbstwetter – war ich mit einer Gruppe Freimaurer, zu dnen mein Mann gehörte, anlässlich eines Festakts der Anna-Amalia-Loge in Weimar. Zum Rahmenprogramm gehörte der Besuch im KZ Buchenwald. Für mich war dies eine erschütternde Reise in die Vergangenheit der Familie meines Vaters.
Mein Großvater war, da schon zwei seiner drei Söhne gefallen waren nicht zum Militär sondern als SA-Mann eingezogen worden. Er begleitete Gefangenentransporte und hatte Zugang zum KZ. Mein Vater erzählte, dass er ein einziges Mal von seinem Vater eine Ohrfeige bekommen habe. Er war als ca. 10Jähriger nach Hause gekommen und hatte selbstzufrieden berichtet, dass er vor einem jüdischen Nachbarn ausgespuckt habe. Mein Großvater hat die Maulschelle nicht kommentiert. Einige Tage später bot er meinem Vater an, ihn zur Arbeit zu begleiten und nahm ihn – soweit dies zugelassen war – mit ins Lager. Mein Vater sah die ausgemergelten Gestalten, die selbst im Lager den gelben Stern tragen mussten und begriff, was mein Großvater ihm zeigen wollte. Er selbst musste sich entscheiden zwischen Herrenmenschentum und Menschlichkeit.
Das KZ Buchenwald liegt auf einer Kuppe oberhalb von Weimar. Immer, selbst im Hochsommer, weht dort ein kalter und scharfer Wind. Stundenlang mussten die Häftlinge zum »Appell« auf der Spitze dieser Kuppe stehen. Während ihr Blick durch den Maschenzaun auf das Anwesen des Lagerleiters mit Hühnern, Blumen- und Gemüsegarten, einer Bank unter der idyllischen Gartenlaube und Spielgeräten für die Kinder des Kommandanten und ihre kleinen Freunde gezwungen wurde, waren die unterernährten Gefangenen in der viel zu dünnen Lagerkleidung stundenlang der tödlichen Kälte auf der Kuppe ausgesetzt.
Das Mahnmal ist eine erwärmte Kupferplatte, die am höchsten Punkt der Kuppel in den Boden eingelassen ist. Vielleicht vier oder fünf Menschen können – dicht beieinander – auf ihr stehen. Der eisige Wind, der selbst an diesem sonnenwarmen Oktobertag in wenigen Minuten durch unsere Kleidung drang vermittelte den Hauch einer Ahnung wie es gewesen sein muss, hier oben stundenlang ausharren zu müssen. Das Minimalistische dieser Installation machte es unmöglich, sich vor dem Gewahrwerden des Unvorstellbaren gänzlich zu verschließen.
Die junge Slammerin war mit ihrer Klasse im KZ Buchenwald gewesen. Selbst jetzt noch, während ich darüber schreibe bin ich berührt davon, wie in ihrem Poem eine Verbindung zu den Opfern entsteht, deren Überlebende ihre Ur-Ur- oder gar Ur-Ur-Urgroßeltern sein könnten.
Sie ist meine Favoritin …