Neueste Artikel

Doppelter
Espresso

Mikroplastik im Duschgel … wie fies ist das denn?!?

Ich liebe Kaffee, am liebsten mag ich Espresso aus der guten alten Neapolitana. Habt Ihr mal ein Dusch-Peeling mit Espresso-Prütt gemacht? Es macht Spaß wie eine Schlammschlacht in Kindertagen und das Ergebnis ist sensationell. Die feine Körnung fühlt sich perfekt an und durch die Öle im Kaffee ist die Haut anschließend glatt und geschmeidig wie … probiert es einfach selber aus ;-).

Die Stunde der Ameisen

Bonn 1981: 300.000 gegen den Nato-Doppelbeschluss Quelle: www.hdg.de

Bonner Hofgarten 1981: 300.000 gegen den Nato-Doppelbeschluss
Quelle: www.hdg.de

Der europa­weite Aktions­tag gegen die Frei­handels­ab­kommen dieses Jahr am 11. Oktober fand genau 33 Jahre – und einen Tag, um ganz genau zu sein – nach der großen Friedens­demon­stration im Bonner Hof­garten gegen den Nato-Doppel­beschluss statt. Es war der Anfang der Friedens­bewegung, und ich war dabei. In der ersten Reihe, fast. Ich hatte aus­schlafen, in Ruhe früh­stücken und Tante Heidi beim Ab­waschen helfen können. Sie wohnte vis à vis zum Schloss. Und so brauchte ich nicht, wie die meisten anderen Demon­stranten, von den Bus­park­plätzen an der Rück­seite her zur Menge auf­zu­schließen, sondern ich konnte gegen­über durch den Haupt­ein­gang einfach in den Hof­garten spazieren. So stand ich nur wenige Meter von der Bühne entfernt und konnte Hein­rich Böll, Petra Kelly und Coretta Scott King, der Frau Martin Luther Kings, quasi an den Lippen hängen.

Während der letzten Jahre meiner Schul­zeit hatte ich an etlichen Demon­stratio­nen teilge­nommen. Die Zentrale des Ver­fassungs­schutzes war nahe meiner Schule am Kölner Rudolf­platz, und bei den ersten Demos – ich glaube, es ging um Fahr­preis­erhöh­ungen – flogen nicht nur Parolen, sondern durch­aus auch Pflaster­steine. Auch bei einer der legen­dären Auf­märsche gegen das Atom­kraft­werk in Brokdorf war ich dabei. Im Sommer 1981, drei Jahre nach meinem Abitur, hatte ich mein Lehrer­studium an den Nagel gehängt und war meinem Mann nach Amsterdam gefolgt. Mir war klar geworden, dass ich auf viel zu vielen Ver­fassungs­schutz­fotos abge­bildet war – auch wenn ich nie an gewalt­samen Aus­schrei­tungen beteiligt gewesen oder gar verhaftet worden war. Es war die Zeit der Berufs­verbote und ich rechnete mir keine Chance aus, als Lehrerin ver­beamtet zu werden. Deshalb war es eine über­wälti­gende Erfah­rung, zu dieser unglaub­lich riesigen und absolut fried­lichen Menschen­menge dazu zu gehören. Ich habe das nie mehr vergessen, dieser Tag gehört zu den prägend­sten meines Lebens und hat mich zu der glühenden Anhän­gerin des gewalt­losen Wider­stands gemacht, die ich bis heute geblieben bin.

Als ich im Spät­sommer von der Ableh­nung der Euro­päischen Bürger­initia­tive – kurz: EBI – gegen die Frei­handels­ab­kommen mit Kanada und den USA hörte, äußerte ich einem guten Freund gegen­über die Vermu­tung, dass sich diese Provo­kation als großer Glücks­fall erweisen könnte. Ich hatte die Vision, dass sich aus dem ersten Auf­schrei über die Arro­ganz, mit der die EU-Kommis­sion die Initia­tive vom Tisch gefegt hatte – wie zuvor schon ihr Ver­handlungs­führer Karel De Gught und Bundes­wirt­schafts­minister Sigmar Gabriel – , dass sich aus diesem Auf­schrei ein neues Bewusst­sein für eine euro­päische Iden­tität ent­wickeln könnte. Und dass – analog zu 1981, dem Auf­takt der großen Friedens­demon­stra­tionen – 2014 als das Jahr in die Geschichte ein­gehen könnte, in dem die Ameisen­bewe­gung begann …

Infografik Markenkraken Quelle: DIE ZEIT 2013/N°19

Quelle: DIE ZEIT 2013/N°19

Ziemlich genau vor einem Jahr hatte es ange­fangen: nach und nach war mir die (im Nach­hinein kind­liche) Vor­stellung abhan­den gekom­men, die vielen verschie­denen Joghurt-, Rasier­schaum-, Zigaretten-, Bier- und Putz­lappen­system­sorten in den Super­markt­regalen hätten irgend etwas mit einem sich selbst durch Konkurrenz und Marken­viel­falt im Gleich­gewicht haltenden, freien Markt zu tun.

Quelle: DIE ZEIT

Quelle: DIE ZEIT 2012/N°23

Statt dessen begriff ich, dass eine Krake mit 147 Firmen-, Finanz- und Share­holder-Armen auf dem besten Wege war, das gesamte poli­tische, kultur­elle und wirt­schaft­liche Kon­strukt Europa zu ver­ein­nahmen. Deutsch­land, däm­merte mir, spielte als Ermög­licher dieser feind­lichen Über­nahme unserer Demo­kratien durch milliarden­schwere Oligo­pole in vorder­ster Liga mit, waren wir doch bis quasi vor­gestern – neben so ver­trauens­würdigen Staaten wie Nord­korea, dem Sudan, Syrien und Soma­lia – eines der wenigen Länder, die die UN-Konven­tion zur Korrup­tions­bekämp­fung nicht unter­zeichnet hatten. Während rund um den Globus die meisten zivi­lisier­ten, in der UNO orga­nisier­ten Länder – 171 von 193, um genau zu sein – diesen seit 2003 exis­tierenden, völker­recht­lich bindenden Vertrag unter­schrieben haben, hat unser Land es immerhin geschafft, dass die gesetz­lichen Vor­aus­setz­ungen dafür seit September diesen Jahres vor­handen sind. Seither können nämlich ein­zelne Politiker mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, wenn sie sich von Lobby­isten be­stechen lassen. Dies gilt jedoch wohl nicht für das Parlament oder die Regierung als Ganzes. Denn das, was in Berlin – und übrigens auch in Brüssel – geschieht und jedem einzel­nen Politiker seit diesem Herbst den Hals brechen würde, kann man wohl schwerlich anders als Beste­chung nennen, hervor­ragend übrigens darge­stellt in diesem 3-minütigen Film …

Und dann kam noch die Sache mit Mon­santo dazu, das Patente auf natür­lich vor­kom­mende Pflanzen anmeldet, so dass die Bauern ihr Saatgut nicht mehr von der letzten Ernte abzweigen dürfen, sondern es jedes­mal neu kaufen müssen. Dafür bekommen sie Unkraut­ver­nichter vom gleichen Hersteller zum Freund­schafts­preis gleich mitge­liefert, und weil er so nett ist, hat der Hersteller die Pflanzen, mit denen der Bauer seinen Lebens­unter­halt verdienen möchte, genetisch so verändert, dass sie nicht aus Versehen durch den Un­kraut­vernichter gleich mit vernichtet werden. Jetzt schadet der Unkraut­vernichter zwar den Pflanzen nicht mehr, dafür überleben ihn aber leider die Bienen nicht, weshalb der Hersteller jetzt wahr­schein­lich in Nacht­schichten schon wieder hart daran arbeitet, sich selbst bestäu­bende Apfel­bäume zu erfinden. Franzö­sische Bauern dürfen übrigens ihr durch Pestizide verur­sachtes Parkinson als Berufs­krankheit aner­kennen lassen.

Unter uns gesagt: Die Afrikaner, die demnächst nichts mehr nach Europa verkaufen können, weil der größte Binnen­markt der Welt mit schlappen 800 Millionen Kunden dann genug mit sich selbst zu tun hat – zum Ausgleich heißen die guten alten »Neger­küsse« jetzt schon »Schaum­küsse«, der »Sarotti-Mohr« ist ohne Abge­sang dahin­ge­schmolzen und an einer poli­tisch korrekten Neu­fassung des Struw­wel­peters wird noch etwas gefeilt – die Afrikaner also werden von hyper­billigen Produkten aus eben diesem Markt über­schwemmt werden. Dann werden wir vermut­lich die Ein­reise­bestim­mungen für sie lockern, so wie wir das kürzlich für Fach­kräfte aus Rumä­nien und Bul­garien gemacht haben, die – nun­mehr aus Nie­der­sachsen kommend, wo inzwi­schen die Wälder zu voll sind für all jene von ihnen, die vergessen haben etwas Geld für die Rück­fahr­karte auf die Seite zu legen – nun bettelnd in meiner Mindener Fuß­gänger­zone sitzen. Während also die Ost­euro­päer in Nieder­sachsen für Billig­fleisch sorgen dürfen – klassische win-win-Situation für sie und für uns – dürfen dann dem­nächst die Afrikaner per Hand unsere Obst­bäume bestäuben. Oder so. Kuckst Du, geht doch!

Wo war ich? Ach ja. Also das mit den Oligo­polen, der unter­wander­ten Demo­kratie sowie der Redu­zierung der Arten­viel­falt und der globalen Vergiftung hatte ich dann so nach und nach verstanden – die Sache mit Monsanto übrigens mit­hilfe dieser groß­artigen arte-Dokumen­tation der franzö­sischen Journa­listin und Filme­macherin Marie Monique Robin

Jetzt beschäf­tigte mich immer drän­gender die Frage, ob man, nein: was man, also was ich dagegen aus­richten könn­te. Wenn eine Klientin mich fragen würde, was sie gegen ihre über­mächtige Schwieger­mutter* tun kann, würde ich ihr vor­schlagen, in einer Art Rollen­spiel die Schwieger­mutter zu fragen, was die Klientin denn tut, das es der Schwieger­mutter ermög­licht so über­mächtig zu sein. Meistens kommen da sehr nütz­liche Antworten heraus. Warum sollte also diese Heran­gehens­weise für mich nicht nützlich sein?
*hier könnte auch »Spinnen­phobie«, »Chefin«, »Insolvenz­verwalter« oder »Depression« stehen

Ich ging hinunter zum Fluss, klomm auf dem Kletter­spiel­platz auf einen Turm, von dem aus ich einen wunder­baren Rund­um­blick auf die Alt­stadt­silou­ette, den Fluss bis zum Höhen­zug im Süden und die Flut­auen am Ost­ufer hatte und stellte mir vor, ich sei einer dieser 147 Pluto­kraten – so reich an Geld und Einfluss, dass ohne meine Unter­stützung der Wahl­kampf des amtie­renden Präsi­denten fürs Weiße Haus ein Schlag ins Wasser geworden wäre.

Normaler­weise habe ich Höhen­angst, auch schon bei weniger als einer Stock­werk­höhe über dem Boden. Aber in dieser Rolle: nichts der­gleichen. Ich war ehr­lich überrascht, wie unum­stöß­lich sicher ich* mich auf meinem Turm fühlte. Aller­dings irri­tierte mich die Frage, die ich mit hinauf genommen hatte: was mich aus dem Gleich­gewicht bringen könnte. Es dauerte eine Weile, bis ich mir über zwei Schwach­stellen klar geworden war: Die eine war meine Tochter. Wenn sie – stärker noch: wenn meine Enkelin, in die ich so ver­narrt bin, dass sie meine Achilles­ferse geworden ist – wenn sie sich von mir ab­wenden und mir die gleichen Ver­gehen vor­werfen würde wie diese Umwelt­aktivisten, deren Geschrei mich ab und an erreicht, damit hätte ich wirklich ein Problem. Und ich gestand mir ein, dass mich hin und wieder die Frage beun­ruhigt, wer ich sein würde, wenn ich ohne alles, was ich erreicht habe in die Ander­welt gehen muss.*
*»Ich« meint zwischen den *…* mich in der Rolle als Tycoon.

Versuch einer Weltaufstellung – Skizzen © Kul Tedduz

Versuch einer Weltaufstellung – Skizzen
© 2014 Kul Tedduz

Zusam­men mit dem gleichen Freund, dem gegen­über ich die ein­gangs erwähnte Ver­mutung geäu­ßert hatte, habe ich dann eine Auf­stel­lung gemacht, bei der es um die Frage ging, welches Problem die Welt am meisten bedrückte. Zu unserer beider Über­raschung hatte nicht der Konflikt um die Ukraine, Öl, ISIS oder der Plastik­müll in den Welt­meeren höchste Priorität, sondern das Frei­handels­ab­kommen CETA zwischen der EU und Kanada, das im Sommer para­phiert werden sollte und das als Modell gilt für das TTIP-Ab­kommen zwischen der EU und den USA.

Einige Tage nach meinem Expe­riment auf dem Spiel­platz und der Auf­stellung hatte ich einen Alp­traum, in dem ich noch einmal auf dem Turm stand …

Ich stehe auf einer Platt­form, einem Aus­sichts­turm – über mir nur Himmel. Ich stehe und schaue. Bis zum Horizont – alles meins. Ohne dass ich Anwei­sungen geben muss geschieht dort unten nichts, was ich nicht will. Ich stütze mich mit beiden Armen auf die Brü­stung, wenn ich auf einem Schiff wäre, würde mir der Wind von der Bug­welle hoch Gischt ins Gesicht wehen. Ich lehne mich zurück. Richtig genau mag ich nicht hin­schauen. Betrieb­sam­keit von Baggern, so groß wie Super­markt­park­plätze, mittel­gebirgs­hohe Hügel von Roh­stoffen – «Sand, Steine, Erden …« – die drei Wörter bilden irgend­einen fernen Sinn, viel­leicht noch aus meiner Jugend – eine Gewerk­schaft? Eine Rock­band?

Mir fällt auf, dass ich keine Freunde habe. Nicht mehr habe. Spielen, toben, bolzen, Geheim­nisse haben, sich blind auf­ein­ander ver­lassen kön­nen – weiß ich noch wie sich das anfühlt? Tausende, die es gerne wären, hunderte die sich so nennen – aber keiner der es wirklich ist. Jemand der sich traut, mich »Arschloch« zu nen­nen oder mir vor die Füße zu kotzen, wenn ich wieder per Feder­strich eine Ent­schei­dung an meinem zehn­tausende Dollar – stimmt, ich glaube ich träume Dollars, nicht Euros – teu­ren Schreibtisch gefällt habe, über die sich irgend­wo außer­halb meines Gesichts­feldes ein paar tausend Leute laut­stark auf­regen und – von Poli­zisten, die ich nicht ein­mal bez­ahlen muss, bewacht und wenn nötig außer Gefecht gesetzt – ein paar Straßen mit ihrem bunten Auf­zug füllen. Abends ist alles wieder vorbei. So­lange die Aktien­kurse nicht sinken …

Wo war ich, ja … keine Freunde. Wenn ich will, dass mir jemand wirk­lich die Meinung sagt, muss ich Unter­nehmens­beratern oder Uni­versi­täts­pro­fes­soren hun­derte Dollars pro Stunde bezahlen, damit sie mir sagen, was sie denken. Ich statte dann eine Stif­tung, die meistens vor­sichts­halber nicht nach mir heißt, mit dem nötigen Kleingeld aus und lasse sie von enga­gierten High-Poten­tials mit hervor­ragenden Universi­täts­ab­schlüs­sen und ethischen Ambi­tionen leiten. Sind die auch beschäftigt. Und beaufsichtigt: »If you can not hit them – join them!« Präventiv, so­zu­sagen…

Meine Frau stellt manch­mal Fragen, die in mir für einen Moment Unbe­hagen aus­lösen. Ich verspre­che ihr, mich um das Problem zu kümmern oder frage sie, wieviel Geld sie braucht, um sich der Sache selbst anzu­nehmen. Ab und zu treffen sich meine Berater und die des Präsidenten, damit wir uns jeder­zeit bei einem Treffen anlächeln und das shaking hands von beiderseitig sonorem Lachen begleitet werden kann in der Gewiss­heit, dass auch unsere Damen mit uns zufrieden sind.

Ein ernst zu nehmendes Problem stellt meine Tochter dar. Im Moment ist sie mit ihren Babys beschäftigt. Aber ich darf nicht vergessen, mich darum zu kümmern. Sie – und ihr Mann – können mir ernst­hafte Schwierig­keiten machen.

Der Himmel bewölkt sich. Die Konturen der Land­schaften werden schärfer, es sieht aus, als ob der Horizont näher ist – nicht näher kommt sondern jedesmal, wenn ich hinschaue, näher ist. Obwohl es nicht sein kann, erscheinen Auf­züge von diesen schrei­enden, Banner schwen­kenden Men­schen in meinem Blick­feld. Es werden mehr, sie werden größer, ich ahne, dass ich sie bald sogar hören werde. Wo sind die Poli­tiker, die das ver­hindern sollen, wo die Polizei – es werden immer mehr – sie sind rings­um, wenn sie eine bestimmte Linie über­schreiten, werden sie kleiner, verwandeln sich … in Ameisen, werden immer kleiner, schwarze, rote … sie kommen näher, immer näher – … ich will schreien, aber ich bringe keinen Ton heraus, mein Mund bleibt offen stehen, das Ent­setzen ange­sichts dessen was unwei­gerlich geschehen wird, lähmt meine Gesichts­muskeln, mit aufge­rissenen Augen und Mund starre ich dem unauf­halt­samen schwarzen Strom entgegen … je näher sie kommen, desto lauter wird das Brausen,

Kul Tedduz CC0

Kul Tedduz CC0

das diese Milli­onen, viel­leicht Billi­onen winziger Krabbler erzeugen, ich kann es nicht sehen, aber ich weiß genau, dass sie den Sockel des Turms erreicht haben, nichts hindert sie, inzwischen auf einen Zenti­meter geschrumpft kommen sie höher und höher, ich kann nichts tun, sie meinen nicht mich, mein Wille und ihrer haben keine gemein­same Schnitt­stelle, sie kommen höher und höher, sie tun was sie tun müssen…

Als die ersten Ameisen über meine Lippen, in meinen Mund, meine Nase krabbeln … wachte ich auf. In Schweiß gebadet. Ich musste meinem Kiefer, meinen Armen und Beinen einzeln den Auf­trag geben, sich aus der Starre zu lösen, mein Mund war trocken und schmeckte bitter, ich brauchte lange, bis ich sicher war, dass ich nur geträumt hatte …

Nach der Ablehnung der EBI konnten wir zuschauen, wie in wenigen Tagen lokale und über­regio­nale Gruppen und Bünd­nisse entstanden – in meiner Stadt, in der Nachbar­stadt fanden wir Mit­streiter … An dem vom Kampagnennetzwerk Campact organisierten europa­weiten Aktions­tag STOP TTIP! sammelten wir, zusammen mit 3.700 anderen Ak­tions­­gruppen aus 9 Ländern, fast 250.000 Unterschriften gegen die Freihandelsabkommen! Eine Viertel Million an einem einzigen Tag!!

Noch nicht unterschrieben?

Hoffentlich gibt es dann noch Briefe ;-) von Kul Tedduz CC0

Hoffentlich gibt es dann noch Briefe 😉 Kul Tedduz CC0

Angst und Mut­losig­keit sind einer Vision gewichen, die in 25 Jahren viel­leicht so – oder auch ganz anders 😉 – Gestalt anneh­men könnte …

Wenn es schnell gehen soll, mach einen Umweg …

Gerade fand ich dieses Video aus Graz. Es erinnerte mich an die Münsteraner Demo im Dezember.

Im Zug saß ich einem Stu­denten­pärchen aus Biele­feld gegen­über, die auf dem Weg ins heimat­liche Wochen­ende waren und unauf­fällig zu lesen versuchten, was auf meinem Hut stand. Ich lächelte sie an, bog die Krempe ein wenig her­unter, so dass sie »Ich bin ein Handels­hemmnis« lesen konnten – und schon hatten wir ein leb­haftes Gespräch. Sie erzählten, dass ihnen die Frei­handels­ab­kommen Angst machten, weil ohne­hin über­mächtige und gefähr­liche Konzerne wie Mon­santo noch mehr Macht bekämen. »Aber was kann man da machen?«

Ich erzählte ihnen von den Biele­felder und Minde­ner Bünd­nissen gegen die Frei­handels­ab­kommen und dass ich auf dem Weg zur Demo in Münster sei. Man sah ihnen an, dass sie mich dafür eigent­lich ein bisschen zu alt fanden und gleich an­schlie­ßend ihre Ver­legen­heit, weil ich ihre Gedanken erra­ten hatte. Wir lachten, als ich es aus­sprach. Und ich erzählte, dass ich mich während meiner Familien­phase für Umwelt­schutz, Verbes­serung von Kommu­nikation in Familien und für Hospiz­arbeit engagiert hätte und seit der großen Friedens­demon­stration vor 33 Jahren, bei der über 300.000 Menschen im Bonner Hof­garten gegen die Auf­rüstung der NATO demon­striert hatten, zum ersten Mal wieder auf dem Weg zu einer Demo sei.

© kw

© kw

In Münster habe ich den Hut umge­dreht. Mit einer Unter­schriften­liste für die Selbst­organi­sierte Euro­päische Bürger­initia­tive sprach ich ent­lang des Demon­stra­tions­weges Pas­san­ten an, indem ich auf meinen Hut wies, auf dem jetzt vorne »minden.gegen-ttip.de« zu lesen war. »Ich bin als Abord­nung extra aus Minden ange­reist!« Über­raschung, Lächeln – »Haben Sie schon unter­schriebe? Ich finde, es ist so wichtig, dass unsere schö­nen histo­rischen Städte selb­ständig blei­ben!« – 20 Unter­schrif­ten in zwei Stunden.

Ich bin ein Fan von indi­rekten Gesprächs­zugängen …

Und hier geht’s zu Ronja, dem vier­beinigen Handels­hemmnis …

Cradle to Cradle – was wir von Ameisen lernen können

Während der Vorweihnachtszeit hatte ich das Vergnügen, einen Adventskalender lektorieren zu dürfen, den ein guter Freund als Beitrag zur europaweiten Kampagne gegen die Freihandelsabkommen gestaltet hatte.

kw CC0

kw CC0

Im Novem­ber hatte ich Ulrike Herrmanns Autorenlesung über ihr neues Buch »Der Sieg des Kapitals« besucht. Ihr Vor­wurf an die Uni­versi­täten, es gäbe kaum bis keine For­schung zum Über­gangs­mana­ge­ment im Bereich der Finanz­wirt­schaft hatte mich auf­merk­sam werden lassen für derartige Ansätze. Und für die Feier­tage hatte ich mir vor­ge­nom­men zu stricken und mir für Be­iträge aus dem Kalender, die die Perspektive »Eine-gute-Zukunft-ist-möglich« mit Infor­ma­tionen stützen, Zeit zu nehmen.

Zu der Geschichte von dem kleinen palä­stinen­sischen Flücht­lings­kind, das, wenn es erst groß ist, die ganze Welt retten soll, fand ich das »Cradle to Cradle«-Stich­wort ganz passend. Das C2C® -Kon­zept, zu dem man durch das 21. Türchen gelangt, stammt von Prof. Dr. Michael Braun­gart.

Auf der Web­seite der ersten Utopia-Kon­ferenz 2008 in Berlin wird der Erfinder und seine Kreis­lauf­idee so vor­ge­stellt:

»Meine Vision ist es, dass die Menschen so intel­ligent werden wie Ameisen: Dass keine Abfälle mehr entstehen, sondern nur noch Stoffe von Menschen pro­du­ziert werden, die wieder zurück in die Kreis­läufe gehen. Wir müssen die Umwelt nutzen, statt ihr zu schaden.« Michael Braun­gart ist ganz sicher einer der großen Öko­visio­näre Deutsch­lands. Der Ver­fahrens­tech­niker und Grün­der des Ham­burger Um­welt­insti­tuts plä­diert für intelvligente Produk­tions- und Recyc­ling­ver­fahren, die Um­welt­schutz und Eff­izienz auf einen Nen­ner bringen. Statt res­sour­cen­feind­lichem »Down­cyc­ling«, bei dem wert­volles Mate­rial ver­loren geht, lautet seine Lösung »Up­cyc­ling« – ein Pro­dukt wird voll­ständig in ein neues um­gewan­delt, ohne dass ein unver­wert­barer Rest bleibt. Das Prin­zip, das mit seinem Namen un­trenn­bar ver­bun­den ist, heißt »Cradle to Cradle« und funk­tio­niert in jedem Ameisen­haufen: Ein Modell für indu­strielle Pro­zesse, in dem alle Mate­rialien in ge­schlos­senen bio­logi­schen oder tech­ni­schen Kreis­läufen flie­ßen.

Das Beste daran: von T-Shirts (kompositerbar, Knöpfe bitte vorher entfernen 😉 ) und Matratzen , vom Büro­stuhl über den Teppich­boden bis hin zu Häusern und gan­zen Firmen- und Freizeitparks funk­tio­niert das Kon­zept bereits. Euro­päi­scher Vor­reiter: die Nieder­lande.

Und hier geht es nun zum Video …

PS: Ich habe dieses relativ alte Video wegen der ersten zwei Minuten gewählt. Warum, darauf komme ich in einem späteren Artikel noch zurück.

Nikolaus …

Eigentlich wollte ich mir heute Gedanken über eine Analogie machen, die mir zwischen der Geschichte vom Nikolaus und den Frei­handels­abkommen aufge­fallen war. Aber dann kam alles ganz anders, weil mich nämlich die Lust überkam, für den morgigen Niko­laus­tag Kuchen zu backen. Der Nikolaus verteilt in Holland unglaub­liche Mengen von »Peper­nootjes«. Sie sehen aus wie Amarettini und schmecken nach Leb­kuchen­gewürz. Wunderbar. Und während unserer Familien­phase in Amster­dam war dann auch eines unserer Lieblings­-Kuchen­rezepte für die Advents­zeit »Cake met Peper­nootjes« oder einfach »Sinter­klaas-Cake«. Da ich im Herbst mit schöner Regel­mäßig­keit vergesse, mir von meinen hollän­dischen Freunden Peper­nootjes schicken zu lassen gibt es in den letzten Jahren eine Variante mit Amaret­tini. Auch völlig köst­lich!

Hier ist das Rezept für meinen

Sinterklaas-Kuchen
(reicht für zwei Kastenformen)
­

10 Eier
400 gr Zucker
500 gr Butter
500 gr Mehl
2 Pck. Vanillezucker
1 Pck. Backpulver
5 cl Amaretto

Diese Zutaten werden wie bei jedem anderen Rührkuchen verarbeitet. Da die Amarettini jedoch viel Feuchtigkeit aufnehmen darf der Teig nicht klassisch »schwer reißend vom Löffel fallen«, sondern er wird nach und nach mit

ca. 100 ml Mineralwasser

verdünnt, bis er »leicht aber nicht fließend« vom Löffel fällt. Sie schaffen das!
Dann werden

250 gr Amarettini

vorsichtig unter den Teig gehoben. Da die Amarettini beim Backen nach unten sinken und dann gerne am Boden der Kuchenform karamellisieren, wodurch der Kuchen an der Form haften bleiben kann, sollten die Formen gut eingefettet und am besten zusätzlich mit

Mehl oder – noch leckerer! – geriebenen Mandeln

ausgestreut werden.
Bei 160°C je nach Form ca. 60-70 min backen.

 
Bei einem Tässchen Kaffee, nachdem die Kuchen im Ofen waren, hat mich die Analogie, von der ich eingangs sprach noch einmal beschäftigt: Damit der Nikolaus so ein guter Kerl sein kann braucht er seinen schwarzen Knecht. Auf Nieder­ländisch heißt der auch gleich passend »Zarte Piet«. Zwarte Piet schleppt die Säcke mit den Geschenken für die braven Kinder und muss – damit sein Boss Sint Nicolaas ganz und gar gut sein kann – auch noch den Job über­nehmen, die Kinder zu verhauen, die nicht brav waren. Also die Rech­nung dafür, dass der Niko­laus so gut sein kann, zahlt Zwarte Piet.

Und wer zahlt die Rechnung für das ver­spro­chene Wirt­schafts­wachstum, wenn wir mit TTIP und CETA einen 800-Millionen-Binnen­markt zwischen den Karpaten und dem Pazifik haben? Richtig: der »Schwarze Kontinent«.

Offener Brief an meinen
Bundestagsabgeordneten

Sehr geehrter Herr Post,

ich bin kein SPD-Mitglied, aber ich habe Sie gewählt. Als ich noch in der Nähe vom Sommer­bad wohnte, haben Sie mich an einem Sonn­tag­morgen ange­sprochen. Ich ging mit meinem Hund und Sie verteilten Flyer. Wir haben ein interes­santes kleines Gespräch geführt, das ich nicht vergessen habe.

Kürzlich habe ich hier einen Artikel veröffentlicht, in dem ich mir die Frage gestellt habe, ob ich noch in einer parla­menta­rischen Demo­kratie lebe oder in einer von Oligo­polen der Öl-, Rüstungs-, Agrar-, Lebensmittel-, Pharma- und Daten­industrie unter­wanderten Schein­demo­kratie. Mein Fazit – aber lesen Sie ihn einfach selbst …

Als Euro­päerin und aus großer Sorge um unsere frei­heit­lich-demo­kratische Grund­ordnung, um unsere wunder­bare, viel­fältige Natur, um Ver­braucher­schutz, Arbeits­recht, öffent­liche Daseins­vorsorge, um Daten­sicherheit, um den Schutz unserer Privat­sphäre und nicht zuletzt um den Frieden habe ich mich ent­schlossen, alles in meiner Macht stehende zu tun, um die geplanten Frei­handels­ab­kommen CETA, TTIP UND TiSA zu verhindern.

Ich bitte Sie, dies auch zu tun!

Nach dem letzten BÜZ-Floh­markt Anfang Novem­ber, wo wir unter dem Motto »Würden sie einen Vertrag unter­schreiben, den Sie nicht ver­standen haben?« 30 Unter­schriften für die Selbst­organi­sierte Euro­päische Bürger­initia­tive gesam­melt und mit über hundert Menschen intensiv gesprochen haben, habe ich einen Beitrag mit Argu­menta­tions­hilfen auf meinem Blog veröffentlicht.

Damit Sie sehen, mit welcher Sorg­falt meine Freunde und ich Infor­matio­nen sammeln, auswerten und zur Verfügung stellen, schenke ich Ihnen einen Advents­kalender.

Soeben habe ich mich an der Email-Aktion »Stoppen Sie CETA!« von food­watch e.V. beteiligt und den folgenden dringen­den Appell an Ihren Parteivorstand geschickt, mit dem ich mich auch an Sie persönlich als meinen Abge­ordneten wenden möchte:

­

——– Weitergeleitete Nachricht ——–
Betreff: foodwatch-E-Mail-Aktion „Liebe SPD-Mitglieder: Stoppen Sie CETA!“: Kopie Ihrer E-Mail
Datum: Thu, 04 Dec 2014 17:28:32 +0100
Von: aktion@foodwatch.de
An: katharina[at]walckhoff.de

Sehr geehrte Mitglieder des SPD-Parteivorstands,

wesent­licher Kritik­punkt an den geplan­ten Frei­handels­abkommen TTIP und CETA sind Investoren­schutz­klauseln. Diese könn­ten dazu führen, dass Konzerne Staaten vor private Schieds­gerichte zerren und versuchen, zum Beispiel verbraucher­freund­liche Kenn­zeichnungs­gesetze weg­zu­klagen. Und sie könnten dazu führen, dass ver­braucher- oder um­welt­freund­liche Gesetze in Zukunft gar nicht erst zustande kom­men aus Angst vor solchen Klagen. Wir erleben dies gerade bei Vatten­fall, das zunächst über die ver­meint­lich zu hohen Umwelt­auflagen für das Kohle­kraft­werk Moor­burg und dann wegen des Atom­aus­stiegs die Schieds­gerichte ange­rufen und Schadens­ersatz in unglaub­licher Höhe von 4,7 Mrd. € für die Betei­ligung an 2 Kern­kraft­werken (50% und 66%) ein­fordert. Der SPD-Vor­sitzende, Vize­kanzler und Bundes­wirtschafts­minister Sigmar Gabriel hat diese Kritik geteilt und noch im Mai 2014 mit drasti­schen Worten vor solchen Klauseln gewarnt: Investitions­schutz­abkommen, so Sigmar Gabriel wörtlich, seien »immer in Gefahr […], die ver­fassungs­rechtliche Grund­ordnung und auch die Frei­heit des Gesetz­gebers auf beiden Seiten der Ver­handlungs­partner zu beein­trächtigen«.

Jetzt hat sich Sigmar Gabriel fest­gelegt: Er will dem bereits aus­gehan­delten CETA-Ab­kommen zwischen EU und Kanada zustimmen, obwohl es genau solche Investoren­schutz­klauseln enthält. Mit anderen Worten: Herr Gabriel nimmt in Kauf, unsere ver­fassungs­recht­liche Grund­ordnung zu gefährden, weil er sich davon wirt­schaft­liche Impulse erhofft und weil »der Rest Europas dieses Abkommen will«. Für eine »nationale Bauch­nabel­schau« habe Europa kein Verständnis, entgegnete er den Kritikern Ende November 2014 im Bundes­tag.

Wir meinen: Wer die verfassungs­recht­liche Grund­ordnung ver­teidigt, betreibt keine »Bauch­nabel­schau«! Viel­mehr wäre es die Auf­gabe eines Vize­kanzlers, Bundes­ministers und SPD-Chefs, die »verfassungs­recht­liche Grund­ordnung« zu vertei­digen, wenn er sie in Gefahr sieht. Und nicht einem Abkommen zuzu­stimmen, das die Grund­rechte der Bürger­innen und Bürger opfert für die vage Aus­sicht auf (besten­falls geringe) wirt­schaf­tliche Impulse – und das zu­gleich eine gefähr­liche Blau­pause wäre für das TTIP-Ab­kommen mit den USA.

Als Mit­glieder der SPD-Fraktion im Bundes­tag bitten wir Sie: Stop­pen Sie Ihren Partei­vor­sitzenden, helfen Sie mit, das CETA-Ab­kommen in seiner jetzigen Form zu ver­hindern! Kein Frei­handels­ab­kommen darf unsere verfassungs­recht­liche Grund­ordnung gefähr­den.

Gestern Abend hat die Selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative die Marke von 1.000.000 Unterschriften passiert . Deutschland hat dabei das Quorum um über 850% erfüllt. Es fehlen nur noch wenig Unterschriften und mit Luxemburg – 92% – und den Niederlanden – 89% – ist auch die zweite Anforderung erfüllt, dass mindestens 7 Länder das Quorum erreicht haben müssen. Wie kommt Herr Gabriel dazu zu sagen, dass »der Rest Europas dieses Abkommen will«? Und würde es uns nicht gut zu Gesichte stehen, gegebenenfalls auch dann einen eigenen Standpunkt zu vertreten, wenn wir damit alleine stünden?

Ich habe gesehen, dass Sie auf Ihrer Facebookseite das Standortpapier der SPD-Europa-Abgeordneten Jutta Stein­ruck veröffentlicht haben. Unter Punkt 5 stellt sich dieses Papier klar auf die Seite rechtsstaatlicher Gerichte. Bitte halten Sie mich darüber auf dem Laufenden, was Sie und Ihre Fraktion tun, um die Ab­kommen in dieser Form zu ver­hindern. Sie können auch gerne etwas in unsere Facebook-Gruppe schreiben!

Mit herzlichen Grüßen aus Minden

 

Sind wir noch eine Demokratie?

Kürzlich habe ich anlässlich der Präsen­tation ihres neu­esten Buches »Der Sieg des Kapitals« das Vergnügen gehabt, der Autorin und taz-Journa­listin Ulrike Herr­mann zuzuhören, wie sie den Kapita­lismus erklärte. Ihre Dar­stellung anhand seiner Ent­stehungs­geschichte machte es mir als Ökonomie-fast-Analpha­betin leicht, ihr zu folgen – ohne den Eindruck zu haben, dass ihr Thema in unan­ge­messe­ner Weise um seine Komplex­ität betrogen würde.

Während ich in dem historischen Vortrags­saal der VHS in Herford Ulrike Herr­manns Vortrag folgte konnte ich regelrecht zuschauen, wie sich mein Kopf aufräumte. Bis jetzt war ich der Auf­fassung gewesen, dass ich Ökon­omie nicht verstehe. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie auf dem Welt­markt freie Markt­wirtschaft und ein sich selbst durch Angebot und Nach­frage regu­lierender Wett­bewerb funktio­nieren sollen. Anzu­nehmen, dass die global player die Welt und die Märkte unter­ein­ander aufge­teilt hätten kam mir immer irgend­wie ver­schwörungs­theore­tisch und somit peinlich vor. Jetzt begriff ich, dass es beides – Welt­»markt« und »freien« Wett­bewerb – nicht gibt und auch nie gegeben hat.

Die Versuchung ist groß, an dieser Stelle einige ihrer interes­santen Thesen nach zu zeichnen. Da das ein Rezensent auf den nachdenkseiten bereits angemessen ausführlich getan hat, möchte ich an dieser Stelle an einer Frage anknüpfen, auf die Frau Herrmann nach ihrem – übrigens nicht nur fun­dierten sondern auch äußerst kurz­weiligen – Vortrag einge­gangen ist: nämlich, ob der oder die Einzelne noch etwas tun könne, ja – ob es denn noch Sinn mache wählen zu gehen ange­sichts der Macht, die Lobby­isten auf die Regie­renden in Berlin und Brüssel aus­übten. Oder ganz all­gemein: ob wir als Bürger über­haupt noch Ein­fluss auf das Regie­rungs­gesche­hen nehmen könnten.

Ihre Antwort: ein entschiedenes »Ja!« Sie ist überzeugt, dass die Abge­ordneten, denen (noch) kein lukrativer Posten in der Wirtschaft den Abschied aus der Regierungs­verantwortung schmack­haft macht, nach wie vor äußerst interessiert daran sind, ihre Wähler zufrieden zu stellen. Und sie sind diejenigen, die bei Abstimmungen über das Ergebnis entscheiden.

Bei einer Unter­schriften­aktion auf dem Floh­markt vor meiner Praxis für die selbst­orga­nisierte Euro­päische Bürger­initiative Stopp TTIP sagten viele Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam, sie gingen nicht mehr wählen, man wisse ja gar nicht mehr, wer eigentlich wofür stünde.

Mein Blick hatte sich in den letzten Monaten ebenfalls an den Entschei­dungs­trägern im Rampen­licht der Polit­bühne fest­gesogen und den Ein­druck erzeugt, dass wir nicht mehr in einer RePublik leben, in der die res publica noch wirklich eine »Sache des Volkes« ist. Aber Herrmanns Argumen­tation war so einfach wie einleuchtend: Die ein­fachen Parlamen­tarier – die Hinter­bänkler, sozu­sagen – sind wirklich noch Abgeordnete: die Abordnung ihrer Wähler und ihrer Partei­basis zuhause.

Praktisch bedeutet dies, dass es wichtig und sinnvoll ist, im Kontakt mit den eigenen Abge­ordneten zu stehen, ganz gleich, zu welcher Partei sie gehören und ob man sie gewählt hat oder ihren Konkurrenten. Zur Zeit ist es schwer bis unmöglich zu unter­scheiden, wofür oder wogegen jede der großen Parteien – einschließlich der Grünen – gerade ist. Das Gute daran ist, dass es tatsächlich fast egal ist, welche der großen Parteien man wählt. Wichtig ist nur, dass man wählt .

Wer nicht wählt, stärkt extrem­istische Bewegungen (deren Sympa­thisanten wählen gehen!) und erweitert den Raum für den anti­demokra­tischen Ein­fluss multi­nationaler Konzerne und Hedge­fonds und den der global agierenden Rüstungs-, Öl-, Atom-, Pharma- und Agrar­industrie.

Wer wählt, wählt Demokratie.

PS: Das Buch liest sich spannend wie ein Krimi …

Jenny’s Aussicht …

Diesen Artikel meiner Schulfreundin Jenny Mansch las ich in einem meiner digitalen sozialen Netzwerke. Nach einer kurzen Korrespondenz

»Liebe Jenny,
darf ich Deinen schönen Artikel auf meiner Subdomain zeitgeschehen.walckhoff.de veröffentlichen? Mit voller Autorenhuldigung, natürlich? Oder noch besser: Du meldest Dich als Redakteurin an und machst es selbst?!
Wenn ich doch nur bald mal nach Berlin käme … wird Zeit dass wir uns mal persönlich sprechen, finde ich.
Für heute liebe Grüße
Katharina«

»Danke, liebe Katharina,
das freut mich, ist ne schöne Seite! Veröffentliche du es lieber, das fände ich glaube ich eleganter. Schön, dass dir der Text gefällt.
Und ja, es wird Zeit, sich mal zu sehen!
Jenny«

hier nun Jenny’s Betrachtungen:

Jetzt haben wir den Salat! Seit 15 Jahren und mehr muss ich mir anhören, »Zieh doch jetzt auch mal aus Neukölln aus«, »Da musste jetzt aber langsam auch mal weg!« »Das ist doch wirklich das Letzte«, und dergleichen, was ich immer abgeschüttelt habe wie Regentropfen, obwohl es schon rough war hier. Meine Tochter schrieb auf einer Postkarte an den besorgten Großvater: »Also Opa! Geschossen wird hier nicht!«, was nicht stimmte, denn im Hinterhof wurde geballert, Drogen verbuddelt, Frauen liefen blutüberströmt des Nachts kreischend im Hof herum, die SEKs trampelten treppauf, treppab im Tagesrhythmus. ‚Irgendwann geht das hier bergauf‘, dachte ich immer störrisch vor mich hin, ohne zu wissen, was und wen ich damit zu meinen habe. Und ich erlebte staunenden Auges die Karawanen Europas, die hier im Laufe der Jahre Ein-und Durchzug hielten, seit Neukölln kein Arbeiterbezirk mehr sein konnte, weil es gar keine Fabrikarbeit mehr gab, außer bei Reemtsma die Kippen drehen.

Nach den Arbeitern, die nach Britz getürmt waren, kamen erst die türkischen Mitbürger, denen Kreuzberg zu teuer geworden war, dicht gefolgt von den arabischen Großfamilien, die sich ständig in der Werbellinstraße gegenseitig die Ohren abschossen. Kaum kamen die halbwegs miteinander aus, zogen die Bosnier her, darauf dann gleich das ganze rumänische Dorf, das in meiner Straße einzog und für neue Stimmung in der Bude sorgte. Doch auch mit ihnen ging es steil bergauf in Neukölln. Alles pendelte sich ein, die rumänischen Frauen hatten bald Buggys, die Kinder Inliner und die Kerle neue Autos.

Aufgestört wurde diese bunte, aber wenig kaufkräftige Mischung dann tatsächlich erst unlängst, als Merkels Wirtschaftsflüchtlinge, die Mutti mit ihrer Sparpolitik alle auf die Welt gebracht hat, hierherzogen. Griechische Familien, spanische Studenten, französische Studenten, portugiesische Studenten, alle auf der Suche nach dem verlorenen Glück, deutsche Hipster mit Hund, deutsche Hipster ohne Hund, die Veganer, Impfgegner und lauter Buggyfrauen aus dem Prenzlauer Berg, die den Scheiß da oben nun auch nicht mehr bezahlen konnten und sich in die Niederungen Neuköllns herabbegeben mussten und als erstes bei Rewe mit den Ureinwohnern aneinandergesemmelt sind, denn da herrscht eben immer noch der gute alte Umgangston, den man besser beherrscht, wenn man schon hierherzieht. Anders wär nämlich schlecht. Die Weserstraße, in der noch vor vier Jahren eine 19-jährige Schwangere nachts auf der Straße erschossen worden war, ist nun der hippe Scheiß voller Kneipen und Galerien, die auch mal einen Dreier anbieten, wenns mit der Kunst nicht so läuft.

Mittlerweile sind zwei der drei Omis aus meinem Erdgeschoss verstorben, nachdem sie über 60 Jahre in diesem Haus gelebt und stets den Niedergang Neuköllns beklagt hatten. Nur noch Frau Albrecht lebt, leider ist sie dement. Sie war früher sehr energisch. Als sich ins Haus ein heimliches Sadomaso-Studio einquartiert hatte, entleerte sie einen Eimer Wasser auf die schwarzen Latexu-Uschis der Einweihungsparty, und auch auf »die Ausländer« hat sie ständig geschimpft, woraufhin ich immer mit ihr geschimpft habe. Heute weiß sie nix mehr, was für sie ein Glück ist, denn sie klingelt nun alle Stunde bei den türkischen Nachbarn um Hilfe und hat ihre Abneigung völlig vergessen.

Langer Rede kurzer Sinn: Eines der letzten wunderbar verkommenen Häuser, in dem auch der Nazi von gegenüber sowie der Computersüchtige und der Opernfreak wohnen, ist seit heute morgen eingerüstet, meine Aussicht wird sich optisch verbessern. Das ist schön. Trotzdem fürchte ich die Verdrängung der bunten Mischung durch die übliche Gentri-Blase, die hier zwar noch ’ne Weile einen sehr schweren Stand haben wird, aber man weiß ja, wie das läuft. Die klagen sich ihre Ruhe vor Gericht zusammen. Und ich hoffe, dass ich deshalb nicht bald auf die Leute hören muss, die immer gesagt haben »Also eigentlich musst du da weg.« Denn für so viele Prenzl-Muttis mit ihren großen Brüsten, absenten Ehemännern und den teuren Buggies sind unsere Bürgersteige gar nicht breit genug.

Wildgänse
im November …

2. Sonntag im November. Es war doch ein unglaublicher Morgen heute, oder nicht? Die Blätter noch an den Bäumen, rot, gelb, braun, violett, manche sogar noch grün. Die Luft roch nach Sonne und der Wind war weich, der Himmel hoch und leuchtend blau mit ein paar Wolkenschlieren. Erst hörte ich nur die Glocken, dann die Wildgänse. Im November war mir dieser Klang so fremd, dass ich ihn erst nach einem Moment der Irritation erkannte. Dann erst fiel mir auf, dass ich in diesem Herbst noch keine Wildgänse gehört hatte. Bleiben sie in diesem Jahr hier, dass sie jetzt erst ihre Formation üben? Oder nehmen sie sich Zeit weil sie wissen, dass der Winter spät kommt?

Wildgänse …

Die Schönheit dieser Bewegung ist fast schon schmerzhaft, und um Sehnsucht und Fernweh Raum zu geben muss ich meine Flanken dehnen. Schönheit zum Atmen.

… in Formation

Ich bin so überwältigt und offen, dass ich in der Fußgängerzone auf dem Weg zum Bäcker die Zeitgenossen anlächeln und fast grüßen muss. Dass sie im selben Moment leben macht sie mir irgendwie zu Gefährten. Was für ein grandioser Tag.

Gerade bin ich von meiner letzten Runde mit dem Hund zurück. Die Luft ist immer noch so weich, der fast noch volle Mond steht hoch und nah zugleich – und die Gänse sammeln sich immer noch. Ich hörte sie noch einmal …

9. November 1989

Früher war der 9. November für mich immer mit dem Datum der Pogrom­nacht 1938 ver­bunden. 1989 – 51 Jahre später und fast auf den Tag genau heute vor 25 Jahren – kaufte ich in einem kleinen Super­markt am Stadt­rand von Amster­dam fürs Mit­tag­essen ein. Mein zwei­jähriger Sohn saß im Trage­tuch auf meiner Hüfte. Wäh­rend ich mit mei­nen Ein­käufen an der Kasse stand, regis­trierte ich seit­lich in mei­nem Blick­feld etwas mit einer Mauer.

Neben der Kasse stand ein Ständer mit der Tages­presse. Was in Deutsch­land die Zeitung mit den vier Buch­staben ist, ist in Holland De volks­krant: wenn man sie nicht liest schaut man auch nicht hin. Nach einer Weile regi­strierte ich, dass sich diese »… Muur …«-Schlag­zeile nicht voll­ständig aus meiner Wahr­nehmung aus­blenden ließ, indem ich sie mit »Wird wohl irgend­wo ein Rolling Stones-Konzert sein« zu über­blenden versuchte.

Ich schaute richtig hin: eine Mauer, heraus­gebro­chene Steine, Men­schen klet­terten über die Mauer. Ich hatte das Gefühl, dass es in meinem Kopf eine Art Erd­beben gab. Das konnte nicht sein. Es war in meinem Leben nicht vor­ge­sehen. Nie hatte ich eine solche Mög­lich­keit erwo­gen, es gab kein Bild für diese Option in meinem Kopf. Hinter dem Datum, an dem mein Vater 1953 nach seiner sechs­jährigen Gefan­gen­schaft unter KZ-Beding­ungen aus seiner Heimat Thüringen nach Berlin ge­gan­gen war und dann rüber­gemacht hatte, hatte sich in meiner Land­karte von Deutsch­land die Grenze zwischen Ost und West für immer geschlossen. Es gab eine dies­seitige und eine jen­seitige Seite der Welt, nicht durch einen Ozean oder eine Konti­nental­spalte, sondern durch eine Mauer mit Todes­strei­fen getrennt.

Mir wurde schwin­delig, jemand bemerkte es, mir liefen Tränen übers Gesicht, ich las flüs­ternd die Schlag­zeile, wieder­holte sie gefühlt sechs, sieben, acht Mal, dann schaute ich jemanden an und sagte auf Deutsch »Die Mauer ist offen…«. Jemand rief »Zij is Duitse!«[1], jemand anderes schob einen Stapel Getränke­kisten an meine Knie­kehlen, so dass ich mich setzen konnte, ich wurde von Wein­krämpfen geschüttelt, dazwi­schen stam­melte ich »Dat kan niet, deze muur gaat dwars door me heen…« [2].

Ich schaute in Zeit­lupe in die Gruppe Menschen um mich herum, bekam Blick­kontakt, jemand umarmte mich, nach und nach um­armten mich immer mehr und gratu­lierten, jemand ließ einen Sekt­korken knallen, wir tranken an Ort und Stelle aus Plastik­bechern den heizungs­luft­warmen, schreck­lich süßen Sekt, sogar der Kleine in seinem Tuch bekam etwas ab: »Kereltje, als dit je moeder is« – Blick zu mir, Nicken, Blick zum Kind – »dan is dit ook jouw feest!« [3].

Ich erin­nere mich nicht mehr, ob ich die Ein­käufe bezahlt habe…

[1] Sie ist Deutsche!
[2] Das kann nicht sein, diese Mauer geht mitten durch mich durch.
[3] Kerlchen, wenn das Deine Mutter ist, dann ist das auch Dein Fest!

Stopp TTIP und Co.!!

»Würden Sie einen Ver­trag unter­schrei­ben, den Sie nicht gele­sen ha­ben?«
»Nein, natür­lich nicht!« »Ich auch nicht! Des­halb stehe ich hier und kriege kalte Füße, denn ich will, dass unsere Abge­ordne­ten in Ber­lin und Brüs­sel kalte Füße krie­gen wegen der geheim aus­gehan­del­ten Frei­han­dels­ab­kommen mit Kana­da und USA und sich die Unter­schrift noch ein­mal genau über­legen.« »Wo muss ich unter­schrei­ben?«

Das war die kür­zeste Ver­sion des Dia­logs, den ich heute Vor­mit­tag mit den Besu­chern auf dem Floh­markt vor mei­ner Tür geführt habe.

Eine gute Kampagne beginn mit gediegenem Handwerk!  © kw CC0

Eine gute Kampagne beginnt mit gediegenem Handwerk! © kw CC0

Ich habe das Glück, einen Desi­gner als Mit­strei­ter zu haben, der un­seren Stand mit aus­gezeich­ne­tem Info­material aus­gestat­tet hat. Wenn ein Stand mit zwei Leuten besetzt ist, ist es viel leich­ter, mit Men­schen ins Ge­spräch zu kom­men, habe ich fest­ge­stellt.

Manche Ge­sprächs­part­ner sagten auch schlicht »Nein!«, wenn ich sie fragte, ob sie die For­de­rung der selbst­orga­nisier­ten Euro­päi­schen Bürger­initia­tive unter­schrei­ben möch­ten. Wenn ich dann antwortete: »Super, Sie haben ver­stan­den wo­rum es uns geht! Darf ich Ih­nen ein paar Infor­matio­nen mit­geben?« waren viele über­rascht und began­nen, mit mir zu sprechen.

Ronja ist ein Handelshemmnis. © kw CC0

Ronja ist ein Handelshemmnis. © kw CC0

Für eine kom­muni­kative Vari­ante sorgte Ronja, mei­ne Thera­pie­hund-Kolle­gin, die eine deko­rative – fand ich, zumin­dest – Papier­schlei­fe mit »STOPP TTIP« an ihrem Hals­band hatte. »Was ist denn mit Dir?« wurde sie gefragt. Ich ant­wor­tete für sie: »Das ist Ronja. Sie ist ein Handels­hem­mnis. Sie will nicht, dass durch die »Regu­lato­rische Ko­ope­ra­tion« in Zu­kunft Lobby­isten die Geset­zes­texte für – mög­licher­weise schlech­tere – Tier­schutz­stan­dards dikt­ieren dür­fen.«

Seit dem europa­wei­ten Aktions­tag gegen TTIP und CETA am 11. Okto­ber sind fast 860.000 Unter­schrif­ten zusam­men gekom­men, eine Viertel Mil­lion haben allein die 3.700 Ak­tions­gruppen aus 9 Ländern am 11. Okto­ber einge­sammelt. Wir kon­nten den Abstand zu einer Mil­lion heute um fast 30 Unter­schrif­ten ver­klei­nern. Pas mal!?

Noch nicht unterschrieben ;-)?

 
­

Prof. Dollase:
Inklusion – Unausgereifte Idee?

Dieser Vortrag lohnt sich bestimmt!!

Ich habe Prof. Dollase vor einiger Zeit auf einem Symposion über ADHS erlebt. Sein Thema war »Macht gute Erziehung Therapie überflüssig?«.

Er und seine Mitarbeiter hatten Hunderte von Studien aus der ganzen Welt zu der Frage ausgewertet, welche Faktoren am meisten zum Lernerfolg von Schülern beitragen und seine These: Classroom management hat den größten Einfluss darauf, ob Schüler etwas lernen und es auch behalten.

»Die Zauberformel heißt: Psychologische Reduzierung der Gruppengröße.« Er erklärte, dass die psychologische, also gefühlte Gruppengröße nichts mit der Anzahl der tatsächlich anwesenden Personen zu tun hat sondern allein mit dem subjektive Eindruck, dass der Vortragende – also in der Schule die Lehrkraft – für mich ganz persönlich spricht.

Ich saß in der letzten Reihe eines Auditoriums von über 120 Zuhörern. Und ich hatte das Gefühl, dass Prof. Dollase für mich ganz persönlich spricht. Während er vorne am Rednerpult seine These erläuterte, fand genau das, was er sagte, statt. Eine beeindruckende Erfahrung!

Deshalb werde ich am Montag in seinen Vortrag über Inklusion gehen.

Aus der Einladung:
»Inklusion überfordert uns alle.« Dies behauptet der deutsche Bildungsforscher Professor Dr. Rainer Dollase. Er wägt in seinem Vortrag die Chancen und Grenzen des Gedankens der Inklusion ab und lädt ein zum Gespräch.

Wäre ja schön, wenn wir uns dort treffen!

Veranstaltung:
Montag, 10. November 2014 | 17.00 Uhr | E-Werk | Hermannstraße 21 a, Minden

PoetrySlam – U20

Eines meiner Lieb­lings-Aus­flugs­sziele ist der Kellerwald , seit ein paar Jahren sogar UNESCO-Welt­kultur­erbe. Buchen- und Eichen­wäl­der, die behut­sam sich selbst über­lassen wieder zu Ur­wäldern werden. Aus dem Dörf­chen »Berg­Frei­heit« stammt das Mär­chen vom Schnee­witt­chen: Kinder – also Zwerge – muss­ten in den niedrigen Gruben­schächten Halb­edel­steine und Achat abbauen. Egal wo ich spazieren gehe, durch welchem Bach ich wate oder in welchem See ich früh morgens oder bei Mond­licht schwimme – immer habe ich das Gefühl, in einer anderen, irgend­wie magischen Zeit zu sein. Lich­tun­gen unter hohen Buchen haben von Früh­jahr bis zum späten Herbst ein ganz besonderes Licht, und nur in Bir­ken­wäl­dern ist die Stille noch hör- und greif­barer als in Buchen­wäl­dern.

Es war mein erster Dichter­wett­streit, gestern abend. Im Zu­schauer­raum, zumind­est. Ich hatte mir vorge­nommen, die Beiträge der jungen Dichter danach zu werten, wie viel am nächsten Tag noch in meinem Bewusst­sein herum­schwirren würde. Vielleicht hatte Melinda ähn­liche Bilder auf der Netz­haut, als es sie irritierte, dass Buchen­wälder ein Thema im Geschichts­unter­richt sein soll­ten. Sie ist nicht ins Finale gekommen, also hatte ich keine Gelegen­heit, meine Klötzchen bei der Publikums­abstim­mung in ihr Glas zu legen. Ihr Bei­trag wäre mein Favo­rit gewe­sen. Sein Titel: Buchen­wald.

Ich war vom ersten Satz an zutiefst bewegt davon, was die­ses Mäd­chen vor­trug. Sie könnte meine Enke­lin sein, und die Men­schen, die in die­sem KZ inter­niert waren, gehör­ten zur Gene­ration ihrer Ur-, wenn nicht sogar Ur-Ur-Groß­eltern. Sie war auf eine beeindruckende Weise betroffen, und zugleich gelang es ihr, künstlerische Distanz zu ihrem Sujet zu halten. Über­lebende, die ihrem Vor­trag gelauscht hätten würden viel­leicht sagen, dass dieses junge Mäd­chen einen kleinen Teil der Verlet­zungen durch Demü­tigung, Ent­setzen und Todes­angst mit Würde aufge­wogen hat.

Vor sieben oder acht Jahren – wie jetzt in der letz­ten Oktober­woche und bei eben­so golde­nem Spät­herbst­wetter – war ich mit einer Gruppe Frei­maurer, zu dnen mein Mann gehörte, anläss­lich eines Festakts der Anna-Amalia-Loge in Weimar. Zum Rahmen­programm gehörte der Besuch im KZ Buchen­wald. Für mich war dies eine erschüt­ternde Reise in die Vergan­genheit der Familie meines Vaters.

Mein Groß­vater war, da schon zwei seiner drei Söhne gefallen waren nicht zum Militär sondern als SA-Mann einge­zogen worden. Er begleitete Gefan­genen­tran­sporte und hatte Zugang zum KZ. Mein Vater erzählte, dass er ein ein­ziges Mal von seinem Vater eine Ohr­feige beko­mmen habe. Er war als ca. 10Jäh­riger nach Hause gekom­men und hatte selbst­zu­frieden berich­tet, dass er vor einem jüdi­schen Nach­barn ausge­spuckt habe. Mein Groß­vater hat die Maul­schelle nicht kom­men­tiert. Einige Tage später bot er meinem Vater an, ihn zur Arbeit zu begleiten und nahm ihn – soweit dies zuge­lassen war – mit ins Lager. Mein Vater sah die ausge­mergelten Gestal­ten, die selbst im Lager den gelben Stern tragen mussten und begriff, was mein Groß­vater ihm zeigen wollte. Er selbst musste sich ent­scheiden zwischen Herren­menschen­tum und Mensch­lichkeit.

Das KZ Buchen­wald liegt auf einer Kuppe oberhalb von Weimar. Immer, selbst im Hoch­sommer, weht dort ein kalter und scharfer Wind. Stunden­lang mussten die Häft­linge zum »Appell« auf der Spitze dieser Kuppe stehen. Während ihr Blick durch den Maschen­zaun auf das Anwesen des Lager­leiters mit Hüh­nern, Blumen- und Gemüse­garten, einer Bank unter der idyl­lischen Garten­laube und Spiel­gerä­ten für die Kinder des Komman­danten und ihre kleinen Freunde gezwun­gen wurde, waren die unter­er­nährten Gefan­genen in der viel zu dün­nen Lager­klei­dung stunden­lang der töd­lichen Kälte auf der Kuppe aus­ge­setzt.

Das Mahn­mal ist eine erwärmte Kupfer­platte, die am höchsten Punkt der Kuppel in den Boden einge­lassen ist. Vielleicht vier oder fünf Menschen können – dicht beiei­nander – auf ihr stehen. Der eisige Wind, der selbst an diesem sonnen­warmen Oktober­tag in wenigen Minuten durch unsere Kleidung drang vermit­telte den Hauch einer Ahnung wie es gewesen sein muss, hier oben stunden­lang aus­harren zu müssen. Das Mini­malis­tische dieser Instal­lation machte es unmög­lich, sich vor dem Gewahr­werden des Unvor­stell­baren gänz­lich zu ver­schließen.

Die junge Slammerin war mit ihrer Klasse im KZ Buchen­wald gewesen. Selbst jetzt noch, während ich darüber schreibe bin ich berührt davon, wie in ihrem Poem eine Verbin­dung zu den Opfern ent­steht, deren Über­lebende ihre Ur-Ur- oder gar Ur-Ur-Urgroßeltern sein könn­ten.

Sie ist meine Favoritin …

­

unterwegs …

Das Symbol für meine Heimat­stadt ist der Dom. Und natürlich all die Aus­gra­bun­gen, zugäng­lich – oder besser: anschau­lich – unter dickem Sicher­heits­glas, auf dem man einen Meter über einem Abschnitt der römi­schen Stadt­mauer oder einem anti­ken Bade­zimmer stehen kann. Und die Bau­stel­len, wo erst­mal nicht weiter gear­beitet wer­den kann, weil die Archä­olo­gen »Alter­tüm­schen« sichern müssen, wie »de Köl­sche säät«. Ich suche mir immer einen Fen­ster­platz, auch wenn ich schon an der Zug­tür stehe, um das Pano­rama­bild Hohen­zoller­nbrücke – Phil­harmo­nie – Dom – Groß-St.Martin – Heu­markt – Spei­cher­stadt sehen zu kön­nen.

Jedesmal, wenn ich nach Köln komme beein­druckt mich die Ein­sicht aufs Neue, mit 7000 Jah­ren Ge­schichte ver­bunden zu sein, wenn ich auf dem Boden dieser Stadt stehe. Schon als Grund­schul­kinder gehör­ten die latei­nischen Namen für das römische Rat­haus und unsere Stadt Colonia Clau­dia Ara Agrip­pinen­sium zu unse­rem Wort­schatz. Irgend­wie habe ich heute noch das Gefühl, dass die Eigen­tümer des Ess­zim­mers mit dem Dio­nysos-Mosaik ihren Stadt­palast erst vor ein paar Jahr­zehn­ten dem Römisch-Ger­ma­ni­schen Mu­seum über­lassen haben. Gefühlt gehören diese Patri­zier zu meiner Kind­heit wie der Milch­mann zwei Stra­ßen weiter.

Weiter geht es hier demnächst auch. Schreibt mir doch eine Mail wenn Ihr neugierig seid 😉 …

­